Kultur seit 80000 jahren

Die Zeit 4 / 2002

Neue Funde stützen die These, schon vor 80000 Jahren sei die menschliche Kultur aufgekeimt

Von Ulrich Bahnsen

 

Südafrikakarte



Reichlich merkwürdig sei die jüngste Schöpfung der Natur ausgefallen, urteilten die versammelten Experten. In nur 3000 Generationen, gleichsam ein Lidschlag der Evolution, sei der Bestand der neuen Spezies von wenigen tausend Exemplaren zur globalen Plage angeschwollen - so schnell, dass sich kaum Genveränderungen ins Erbgut der seltsamen Rasse einschleichen konnten. "Eigentlich", spottete der Genetiker Craig Venter, "haben wir es mit sechs Milliarden eineiigen Zwillingen zu tun."

Die Verwunderung der Wissenschaftler galt ihresgleichen: Wie konnte der Mensch so rasch zur herrschenden Spezies aufsteigen?, grübelten die Gelehrten jüngst auf einer Tagung in Stockholm. Warum glückte ihm der Sprung zum Kulturwesen? Erst vor 90000 Jahren, das zeigen neue Genanalysen, trat ein Trupp afrikanischer Gründerväter seinen planetaren Siegeszug an. Nur um 10000 Köpfe zählten die Ahnen der heutigen Weltbevölkerung. Doch steckten in den Steinzeitpilgern bereits der schöpferische Geist des Menschen, seine komplexe Sprachbegabung und sein Eroberungsdrang? Und wenn ja, wer waren die rätselhaften Pioniere?

Einige von ihnen saßen einst in den Klippen beim Strand, in einer Höhle, 35 Meter über dem Indischen Ozean. Am Herdfeuer knackten sie Muscheln und Schalentiere, daneben filetierten sie Frischfisch. Während seine Kumpane noch urzeitliches Seafood und Sashimi mampften, saß einer abseits. Sorgsam glättete er ein Stück Ocker, bis die Oberfläche plan war - und zeichnete.

Fast 80000 Jahre nach dem Paläoschmaus stieß Christopher Henshilwoods Grabungsteam in der heute Blombos Cave genannten Höhle in der südafrikanischen Kap-Provinz auf das Zeichenbrett - und ahnte nicht, welchen Schatz man geborgen hatte. "Wir haben nichts bemerkt", gesteht Henshilwood, "wir haben das Stück ins Labor getragen und fotografiert, aber zuerst die Unterseite. Doch als wir es umdrehten, sahen wir die Gravur. Ein unglaublicher Moment." Sieben mit Ornamenten versehene, fingerlange Ockersteine barg die Crew des Museums von Kapstadt aus der vorzeitlichen Behausung. Schon zuvor waren sie in den Höhlensedimenten auf Essensreste gestoßen, berichten die Forscher - Muschelschalen, Fischgräten und Tierknochen.

Flugs revidierten die Wissenschaftler vom Kap auch die Bewertung ihres ersten Fundes in der Blombos-Höhle. Bereits 1992, bei Grabungsbeginn, hatten sie dort einen bearbeiteten Säugetierknochen entdeckt. Nun, nach erneuter Untersuchung, glauben die Forscher, auch in den Knochen seien mit Bedacht abstrakte Muster gefräst worden. Inzwischen haben sie weitere 28 Knochenwerkzeuge entdeckt, "einige davon besonders kunstvoll bearbeitet", schwärmt Henshilwood. Ebenso wie die Ockersteine seien auch die Knochen vor über 70000 Jahren von Vorzeitkünstlern bearbeitet worden.

Trifft Henshilwoods Interpretation zu, wäre ein jahrzehntelanger Fachdisput entschieden. Ohne handfeste Belege, aber mit umso mehr Inbrunst stritten die Gelehrten, wie viel Geistesmacht dem Menschen in seiner Geburtsstunde zu Gebote stand. Zwar besteht weithin Konsens, dass die ersten Menschen mit heutiger Anatomie bereits vor über 120000 Jahren durch Afrika pirschten. Doch hauste schon bei ihrer Entstehung, lange vor dem Aufbruch zu anderen Kontinenten, ein symbolisch arbeitender Verstand in ihren Hirnen?

Keineswegs, beharrt eine Forscherfraktion, angeführt von dem Paläoanthropologen Richard Klein. Der letzte Anstoß zur Kulturrevolution, behauptet der Stanford-Professor, sei erst einer späteren biologischen Umwälzung zu verdanken, womöglich einer Genveränderung, die erst kurz vor der Eroberung Europas, vor rund 50000 Jahren, das Hirn umkrempelte und das Kulturwesen Mensch hervorzauberte. Aus dem anatomisch modernen Menschen sei mithin erst viele zehntausend Jahre später das intelligente Wesen vom Schlage Einsteins entstanden.

Der bisherige Ermittlungsstand schien Klein Recht zu geben: Erst die Cromagnonmenschen, die von Osten vor 40000 Jahren bis nach Westeuropa vordrangen, die Neanderthaler friedlich verdrängten oder ausrotteten, hinterließen greifbare Zeugnisse schöpferischen Denkens. Doch die Perfektion der 32000 Jahre alten Tiergemälde in der Höhle von Chauvet bleibt ebenso rätselhaft wie die Kunstfertigkeit, mit der schon vor 28000 Jahren die Venus von Willendorf gedrechselt oder vor 34000 Jahren die Venus von Dolni Vestonice aus Lehm und Knochenmehl geformt wurde. Warum beherrschte ein Geschöpf, das sich genetisch kaum vom Schimpansen unterscheidet, schlagartig Malerei, Kunsthandwerk und fortgeschrittene Waffentechnik? Scheinbar hatten die afrikanischen Auswanderer irgendwann im Verlaufe der Jahrtausende währenden Besiedlung Europas rasch jene geistigen Fähigkeiten entwickelt, die später zu Oper und Internet, Raumfahrt und Rap führen sollten. Urplötzlich habe eine Genmutation die Zivilisation wie ein Feuerwerk gezündet, raunen die Verfechter des Szenarios vom "Big Bang der Kultur". In der Tat gab es bislang keine Anzeichen dafür, dass dem Höhenflug des modernen Menschen ein allmählicher Aufschwung des symbolischen Denkens vorangegangen wäre.

Fast keine. Für Kathlyn Stewart und John Yellen sind die Funde in der Blombos-Höhle eine lang ersehnte Genugtuung. Die Forscherin vom Canadian Museum of Nature in Ottawa und ihr US-Kollege hatten bereits 1995 bei Katanda, im westlichen Rift Valley von Zaire, eine aufsehenerregende Entdeckung gemacht. Dort waren sie in alten Sedimenten auf Hinterlassenschaften früher Menschen gestoßen. Prunkstück war ein Arsenal knöcherner Projektile, viele mit Widerhaken, sagenhafte 80000 bis 90000 Jahre alt. Offensichtlich hatten die Steinzeitmenschen die geschärften Knochenspitzen an Schäften befestigt und zum Speeren von Fischen benutzt. Vor allem die ausgefeilte Jagdtechnik mit Widerhaken verblüffte die Fachwelt, solche Tricks galten als Errungenschaft weit späterer Generationen. Schon zu Anbeginn, spätestens vor 90000 Jahren, hätten sich die heutigen kognitiven Fähigkeiten der Menschen in Afrika entwickelt, lautete das Fazit der US-kanadischen Gräbertruppe - mithin sei Afrika auch die Wiege des kulturbegabten Menschen.

Doch die Fachwelt senkte den Daumen. "Es war ein einziger Fund", sagt Yellen, "und die Interpretation verstieß gegen ein Dogma." Nun, mit den Entdeckungen in der Blombos-Höhle, wankt die These vom späten Intelligenzschub in der Menschheitsgeschichte. Yellen sieht sich bestätigt: Henshilwood habe "dort einen wundervollen Job gemacht", schwört er. Auch die Interpretation der Relikte findet, kein Wunder, Yellens Zustimmung. Immerhin steht auf der Sponsorenliste der Südafrikaner auch die amerikanische National Science Foundation (NSF). Und der Direktor des NSF -Archäologie-Programms heißt Yellen. "Die Muster wurden mit einer bestimmten Absicht hergestellt", sagt er, "ein extrem wichtiger Fund."

Noch akzeptieren die Verfechter eines Spätaufschwungs des menschlichen Verstandes den Grabungserfolg nicht als Beweis für ein modernes Bewusstsein bei den afrikanischen Ahnen. "Wenn die Zivilisation so früh kam, warum sind solche Entdeckungen so selten?", stichelt Klein, der selbst in den Höhlen Südafrikas forscht. Auch der Anthropologe Steve Kuhn von der University of Arizona zweifelt an der Interpretation der Ritzzeichnungen: "Das könnte auch Gekritzel sein, ohne jede Bedeutung."

Doch für Henshilwoods Deutung spricht einiges. Offenbar ging der unbekannte Graveur planmäßig zu Werke: Erst nachdem er die Ockerstücke sorgfältig geglättet hatte, begann er das ornamentale Muster zu ritzen. Mikroskopische Untersuchungen ergaben, dass er dabei präzisen Arbeitsschritten folgte. "Es war keine Krakelei aus reiner Langeweile", versichert Henshilwood, "das Muster besaß eine Bedeutung für den Graveur und seine Leute." Zudem hatte die Sache System. Fünf weitere Ockerstücke, die noch in Henshilwoods Labor untersucht werden, zeigen ähnliche geometrische Muster. "In Südafrika waren schon vor 77000 Jahren geistig moderne Menschen am Werk", folgert Henshilwood. "Die Wiege der Zivilisation stand hier, und die Afrikaner dürfen stolz sein."

Immerhin liefert sein Szenario auch eine plausible Erklärung für den Fortgang der Prähistorie. Denn inzwischen lässt sich anhand von Kleinstvarianten im Erbgut verschiedener Völker rekonstruieren, wann und auf welchen Routen der Mensch von Afrika aus den Globus besiedelte. Und die Seltenheit solcher Differenzen im Genpool gilt als Beleg für eine Besiedelung im Eiltempo. Tatsächlich scheinen die Nachkommen der Menschen von Blombos Cave kaum 20000 Jahre später bereits Australien besiedelt zu haben. Und es ist schwer vorstellbar, dass den Steinzeitmenschen die Seepassage ohne moderne Geistesgaben geglückt ist.

Nun hoffen die Experten auf weitere Funde. Erst wenn mehr Relikte vom Kulturschaffen früher Menschen vorliegen, wird sich Henshilwoods These erhärten lassen. Zweifel indes dürften immer bleiben, gesteht Yellen. "Die Paläoanthropologie", seufzt er, "ist eine Welt, in der gar nichts sicher ist."